Die Nische ist tot, es lebe die Nische. Kaum ein Satz bringt den momentanen Stand der Branche nach fast 20 Jahren besser auf den Punkt. Was einst als Gegenbewegung zum Einheitsbrei der Parfümerieketten und Industriemarken begann, ist heute selbst ein respektables Marktsegment – normiert, formatiert, skaliert und leider auch zunehmend beliebig.
Mein erster Nischenduft war Kyoto von Comme des Garçons. Kein Lifestyle, kein Hochglanz, ohne Influencermarketing und Launchevent. Stattdessen ein simpler Flakon mit Rauch, Holz und Stille. Ein Duft wie ein Ort, und nicht wie ein Produkt, das man sprüht und wieder vergisst. Das war neu für mich. Gefunden und sofort gekauft habe ich Kyoto damals in einem kleinen Conceptstore in Frankfurt. Ohne weiter darüber nachzudenken, geschweige denn den Begriff zu kennen, verstand ich auf Anhieb: Nische bedeutet nicht nur, anders zu riechen, sondern vor allem, anders zu denken. Es ging nicht darum, sich irgendeine angesagte Marke ins Bad zu stellen, den Duft zur teuren Handtasche zu erwerben oder das Eau de Parfum statt der Haute Couture zu tragen. Es ging darum, imaginäre Orte zu erleben, Geschichten zu erzählen, um Kunst, Kreativität und Parfümeure. Für all das gab es damals noch keinen Namen, sondern lediglich Orte, an denen man Düfte zelebrierte. Kleine Parfümerien, in denen man nicht auf ParfümeriefachverkäuferInnen und ehemalige KosmetikerInnen traf, sondern auf duftbegeisterte Seiteneinsteiger, die ihr Hobby zur Berufung gemacht hatten. Concept Stores wie Colette in Paris, 10 Corso Como in Mailand, Apropos in Köln oder Aedes de Venustas in New York waren die ersten Adressen für diese neue Duftkultur. Zwischen Designobjekten, Büchern, Tee und Avantgarde-Mode fanden plötzlich Flakons von Comme des Garçons, Escentric Molecules oder Diptyque ihren Platz. Parfum wurde Teil eines ästhetischen Diskurses, weit entfernt vom Beiwerk zum Outfit.
Natürlich gab es auch früher schon Düfte, die diesem Geist näherstanden als dem sogenannten Mainstream. Féminité du Bois von Serge Lutens beispielsweise erschien 1992 bei Shiseido. Offiziell Kaufhausware, inhaltlich jedoch revolutionär: Ein Holzduft für Frauen, und ein olfaktorisches Manifest gegen Konventionen, lange bevor jemand das Wort „Nische“ mit Parfum in Verbindung brachte. Übrigens: Obwohl sanft reformuliert, ist dieser Duft ebenso wie Kyoto nach wie vor erhältlich.
Mittlerweile ist die ehemalige Gegenbewegung ein veritables Geschäftsmodell. Der Begriff „Nische“ begegnet uns an jeder Ecke. Kaum eine neue Marke, die nicht mit dem Versprechen startet, besonders erlesen, exklusiv und rar zu sein. Tatsächlich aber werden viele dieser Brands von Anfang an für den globalen Markt konzipiert und vertrieben. Der Mechanismus ist immer derselbe: ein paar Jahre Imagepflege, dann Roll-out in den Kaufhäusern und Parfümerieketten. „Nische“ ist längst eine Industrie mit eigenen Messen, Rankings und Marktstrategien. Ziel der Brandeigner ist es oftmals, das Investment möglichst schnell zu monetarisieren und die Marke gewinnbringend an einen der großen Kosmetikriesen zu verkaufen.
Die Beautykonzerne wiederum haben das Spiel adaptiert. Ob Chanel Les Exclusifs, Dior Privée, Armani Privé oder Tom Ford Beauty - plötzlich galt alles als „Nische“, was mehr als 300 Euro kostete und nicht überall zu haben war. Luxus verkauft sich längst nicht mehr über kreative Rebellion, sondern über Preisetiketten, selektive Distribution und ein fein gesponnenes Narrativ von Exklusivität. Das Produkt selbst spielt dabei oft nur eine Nebenrolle - entscheidend sind Image, Multiplikatoren und der Eindruck, man gehöre zu einem Zirkel, der sich vermeintlich vom Rest der Welt abhebt. Um es beim Namen zu nennen: „Exklusiv“ ist oft nur ein anderer Begriff für höhere Marge.
Und so wird „Nische“ heute zunehmend inflationär verwendet und zu einem Label, das sich langsam aber sicher selbst entwertet hat, weil es seinen ursprünglichen Anspruch verloren hat: Statt selektiv und kuratiert zu bleiben, wurde das Angebot immer breiter, austauschbarer und allgegenwärtiger - ob im Kaufhaus, online oder im Sale. Narrative von Heritage und Handwerkskunst wurden oft konstruiert und nicht gelebt. Und jede Marke hatte ihren Duft, der vom Wäscheschrank der Großmutter, vom letzten Urlaub oder von Baccarat Rouge inspiriert war.
Der Rückweg beginnt meist leise. Die Bestseller der großen Marken sind plötzlich keine mehr, Düfte werden ebenso wie Marken „gedisst“ und jeden Tag wird von Influencern - und solchen, die es werden wollen - eine neue „must-have“-Sau durchs digitale Dorf getrieben. Während die einen die „Ultranische“ propagieren, hat man bei anderen den Eindruck, dass sie morgen schon nicht mehr wissen, welchem Duft sie gestern eine 10/10 verliehen haben. Ist die Nische also längst tot?
Ich denke nicht. Wer genau hinschaut, sieht: Es beginnt sich wieder etwas zu bewegen. Es gibt sie wieder: Einzelhändler, die mit Kennerblick ihr Sortiment kuratieren, Onlineshops, die nicht alles einkaufen, was nicht bei drei auf dem Baum ist, und anbieten, was man einmal „Klasse statt Masse“ nannte. Möglicherweise, weil jede Bewegung irgendwann ihrem Ursprung wieder begegnet. Außerdem: Ein überhitzter Markt funktioniert auf lange Sicht nicht. Händler, Sammler und Kenner fragen sich: Wo ist der Spirit der 2000er-Jahre geblieben?
In Gesprächen mit Kunden, Kollegen und Retailern höre ich immer öfter: Man hat sich sattgesehen an gesichtslosen Marken, die alle gleich riechen. An Konzepten vom Reißbrett mit austauschbaren Flakons und künstlicher Verknappung, an der fünfzigsten Aventus-Version. An Marken, die wie eine aufgehübschte Braut im Bett liegen, um aufgekauft zu werden. Die meisten möchten wieder dorthin, wo alles begann: zu den kleinen Manufakturen, den Parfümeuren mit Herzblut und Esprit, zu Köpfen, die sich nicht auf Instagram anbiedern, sondern am Ergebnis arbeiten. Marken wie Hiram Green, Malbrum, Pernoire oder Sabé Masson stehen für diesen Geist. Sie sind rar, weil sie sich nicht skalieren lassen. Ihre Düfte entstehen nicht für Zielgruppen oder Rankings, sondern aus Überzeugung, Können und einem inneren Antrieb anders sein zu wollen. Keine Flanker, keine Holiday Editions, kein Algorithmus. Nur eine Idee - und der Mut sowie das Durchhaltevermögen, ein Konzept durchzuziehen.
Auch im Retail beginnt ein Umdenken. Wer wirklich Nische im ehemaligen Sinne sein will, muss wieder kuratieren. Weniger Marken, mehr Haltung. Kein bloßes Angebot, sondern Auswahl, Präsentation und exquisite Beratung. Es geht nicht mehr darum, alles für alle bereitzuhalten, sondern das Richtige für die Richtigen zu zeigen.
Vielleicht war „Nische“ nie etwas anderes als eine temporäre Utopie. Ein Zwischenraum, bevor das Neue vom Alten gefressen wird. Doch wer einmal das Andere gerochen hat, wird sich nicht wieder mit dem Mittelmaß zufriedengeben. Am Ende ist es wie mit jeder echten Gegenbewegung: Sie beginnt leise, wächst im Verborgenen, wird irgendwann sichtbar, dann laut - und am Ende vereinnahmt, um sich daraufhin neu zu erfinden. Vielleicht stehen wir ja gerade wieder am Anfang. In diesem Sinne: Niche is dead. Long live Niche.