Zwischen Glitzerstaub und Gummistiefeln

June 30, 2025

Mein erstes Festival war alles andere als ein Glamour-Event. „Umsonst & Draußen“ hieß das damals – und genau so war es auch. Statt Coachella-VIP-Zelt und Champagnerlounge gab es im August 1980 einen staubigen Acker, eine wackelige Bühne und einen selbstgebauten Bierstand. Immerhin rund 1.500 Musikbegeisterte sorgten an diesem denkwürdigen Sonntag in der kleinen Umlandgemeinde Wardenburg für einen Hauch von Woodstock - kritisch beäugt von den einheimischen Dorfbewohnern. Für uns hingegen galt die Devise: Wer cool war - oder es dringend sein wollte - musste dabei sein. 
Die Bands? Waren für mich Nebensache. Ich weiß nicht mal mehr, wer damals dort aufgetreten ist. Aber ich erinnere mich an die Stimmung: laut, chaotisch - und doch getragen vom Geist einer verschworenen Gemeinschaft. Wir tranken warmes Bier aus der Flasche, saßen auf dem Boden, tanzten barfuß und waren der festen Überzeugung, Teil von etwas zu sein, das größer war als wir selbst. Es war aufregend und echt. Natürlich war auch damals schon vieles Teil einer Inszenierung. Die Jeans waren zerrissen, das Haar lang und latent fettig, unsere Haltung betont lässig. Es ging um das Gefühl, am richtigen Ort zu sein - und der war eben dort, wo die Freaks waren. Man wollte dazugehören, sich verlieren oder sich neu erfinden. Zur Not auch auf einem Acker, irgendwo im Nirgendwo. Dass es dabei eigentlich um Musik gehen sollte, war ziemlich egal. Entscheidend war: Ich war dabei.


Heute sind Festivals nicht mehr bloß ein Zustand, sondern ein orchestriertes Business-Modell. Ein inszeniertes Paralleluniversum irgendwo zwischen Happening und Hochglanzkampagne. Nehmen wir beispielsweise Coachella - dank Instagram und fotogenem Riesenrad vielleicht das berühmteste Festival der Gegenwart. Hier trifft kalifornischer Staub auf Designer-Boots. Boho-Chic wurde hier erfunden und zur Religion erhoben - inklusive Trockenblumenkränzen auf im Haar, bauchfreien Häkel-Tops und pastellfarbenem Haarschmuck als Pflichtprogramm. Wer kein Selfie mit Wüstenhintergrund und Sonnenuntergang filtert, war praktisch nicht da. Es gibt Instagram-Guides für das perfekte Coachella-Outfit und Tutorials für Glitzer-Make-up, das trotz 40 Grad hält. Nichts wird dem Zufall überlassen - weder die VIP-Gästeliste noch der Dresscode der Sponsoren. Außer vielleicht das musikalische Line-up. Das ist inzwischen so beliebig, dass es auch von einem Algorithmus stammen könnte. Musik ist auch hier eher Nebensache; es geht ums Sehen und Gesehen werden.
Etliche tausend Kilometer weiter im Norden von Deutschland wird in Wacken Jahr für Jahr das Gegenteil zelebriert - zumindest schient es so auf den ersten Blick. Statt Glitzerstaub und Unicorn-Romantik dominieren dort Schwarz, Bier, Matsch und Metal. Die Bühnen sind groß, die Gitarren tiefer gestimmt, das Publikum laut und in der Regel betrunken. Aber auch Wacken ist längst eine Welt mit klaren Codes: Feuerwehrkapelle, Kutten, Bierhelme und Festivalbändchen mit Ehrenstatus. Auch Schwermetaller haben einen Dresscode, Instagram-Spots, eigene Modemarken - und garantiert einen Markensponsor für das perfekte Schuhwerk. Was in Coachella der Wüstenstaub, ist in Wacken der Schlamm, nämlich Teil des Mythos, den man dort erlebt haben muss.
Und irgendwo dazwischen gibt es übers Jahr verteilt all die anderen Festivals: Fusion, Burning Man, Sónar, Glastonbury, Melt, Primavera, Lollapalooza. Jedes mit einem eigenen Lifestyle. Sónar in Barcelona zum Beispiel: kühl, elektronisch, technoid. Hier riecht es eher nach synthetischem Moschus als nach Lagerfeuer. Da wird nicht mit der Gitarre vorm Zelt gespielt, sondern mit dem DJ kommuniziert. Das Outfit: clean und funktional. Die Haltung: distanziert, aber interessiert. Man spricht wenig, man hört mehr. Alles wirkt lässig und raffiniert - und ist doch bis ins Detail geplant. Trotz aller Unterschiede haben alle Festivals eines gemeinsam: Sie sind Orte der Selbstinszenierung. Bühnen, auf denen man nicht nur Künstler sieht, sondern als Zuschauer selbst zur Kunstfigur wird. Ob im Staub von Indio, im Bass von Barcelona oder im Schlamm von Schleswig-Holstein - Festivals sind Räume für das, was wir sein wollen. Für zwei, drei Tage. Und manchmal auch länger.
Ich würde gerne behaupten, dass früher alles echter, unverstellter, weniger kommerziell und wilder war. Aber so ganz stimmt das nicht. Sicher war alles etwas einfacher und unkomplizierter. Man musste sich z.B. nicht lange überlegen, wo man dazugehören wollte, denn es gab eigentlich nur Spießer oder Freaks. Erstere gingen zur Arbeit, letztere zur Schule oder zur Uni. Musik war ebenso einfach: Es gab gute und schlechte Musik. Schlechte Musik war in der Hitparade - gute Musik war das, was wir hörten. Trotzdem war Musik auf Festivals auch damals schon eher Nebensache. Zumindest für mich. Denn es ging um eine Haltung, um Gemeinschaft und um das Gefühl, Teil von etwas Besonderem zu sein. Ob auf einem staubigen Acker oder in einem schicken Clubzelt, ist dabei egal. Auch wir haben seinerzeit unsere Outfits sorgfältig geplant (wenn auch mit weniger Budget). Und auch 1980 wurde posiert (nur eben nicht für Instagram). Und auch damals waren die eigentlichen Stars nicht die Bands - sondern das Erlebnis. Insofern hat sich eigentlich gar nicht so viel verändert. Vielleicht sind wir nur ein bisschen ehrlicher und offensiver geworden in unserer Selbstinszenierung. Wir haben gelernt, das Spiel mitzuspielen - und trotzdem dabei Spaß zu haben. In diesem Sinne darf ein Festival heute eben beides sein: Erlebnis und Event, dekorative Oberfläche und Emotion. Ehrlich gesagt, finde ich das gar nicht so schlimm.


Am Ende war es schon immer wie es heute ist: Man fährt hin, steht in der Menge, tanzt im Dreck, friert nachts im Zelt, trinkt zu viel oder zu wenig, verliert möglicherweise kurz die Orientierung - und findet doch für einen Moment dieses ganz bestimmte Gefühl: Ich bin genau hier, genau jetzt - und genau richtig. Ob man anschließend noch drei Tage lang Glitzer verteilt, nach Mate oder abgestandenem Bier riecht, ist nebensächlich. Wichtig ist nur, dass man gelebt hat. Und dass man dabei war. 
Wer dieses Gefühl vermisst, sollte sich einfach mal die kleine Auswahl an Festivaldüften anschauen. Weniger, um sie beim nächsten Festival zu tragen, sondern um sich von Coachella bis Wacken - jederzeit dieses ganz bestimmte Feeling wieder in Erinnerung zu rufen.

Christiane Behmann

Christiane Behmann


Christiane Behmann ist Diplom Sozialwissenschaftlerin und Texterin. Nachdem sie lange Jahre als Pressereferentin für verschiedene Unternehmen tätig war, wagte sie 2000 mit einer eigenen Werbeagentur den Schritt in die Selbständigkeit. 2007 gründete sie das „Archiv für Duft & feine Essenzen“ und war damals eine der ersten Bloggerinnen Deutschlands. Seit 2009 war sie außerdem Inhaberin vom Duftcontor in Oldenburg und arbeitet jetzt wieder in ihrem alten Beruf.