Der Mythos des Besonderen

November 13, 2025

Achtung: Der folgende Text könnte auf sensible Konsument:innen verstörend wirken – oder spontane Kauflust auslösen. Diese Triggerwarnung sollte eigentlich verpflichtend über einem der gefährlichsten Begriffe stehen – insbesondere in der Vorweihnachtszeit: „Limited Edition“. Zwei Worte, die es mühelos schaffen, selbst aus vernünftigen Menschen adrenalingesteuerte Jäger zu machen. Worte, die auch mich mitunter mitten in der Nacht dazu bringen, eine Bestellung zu tätigen, weil ich Angst habe, am nächsten Morgen „ausverkauft“ lesen zu müssen. Und obwohl ich sozusagen vom Fach bin und die Mechanismen kenne, würde ich meine Weihnachtskerzen auch im Juli kaufen.


Dabei kommt heutzutage kaum ein Bereich ohne limitierte Auflagen aus: Von Duftkerzen, Parfums und Adventskalendern, die jährlich in neuen Festgewändern erscheinen, bis hin zu Make-up-Paletten, die in der Regel bis Silvester „exklusiv“ bleiben – bevor sie im Sale landen, um wenige Wochen später als Frühjahrsedition wiederaufzuerstehen. Während die Modeindustrie auf sogenannte Capsule Collections und Designerkollaborationen setzt, fängt es bei Lebensmitteln mit Lebkuchen an und hört bei Pumpkin Spice Latte oder Jahrgangssekt längst nicht auf. Kurz gesagt: Die Limited Edition ist längst der umsatzgenerierende Normalfall geworden – und der Ausnahmezustand nicht nur zu Weihnachten eine Verkaufsstrategie. 


Dazu muss man Folgendes wissen: Limited Editions finden sich besonders häufig bei Produkten, die einerseits austauschbar und andererseits emotional aufgeladen sind. Anders gesagt: Je geringer der objektive Unterschied, desto stärker wird über Rarität, Design und Emotionalität verkauft. Bestes Beispiel: Vasen, Bücher oder Kunstdrucke, die nummeriert und/oder handsigniert werden, um so einen Sammlerwert zu erzeugen. So wird aus einer beliebigen Kerze – als limitierte Weihnachtskerze im festlichen Design – ein schnell vergriffenes Must-have. Und mal ehrlich: Wie oft wollen wir etwas wirklich haben – und wie oft wollen wir es nur, weil es bald weg sein könnte?


„Limitierte Auflage“ klingt nach Kunst, nach Exklusivität, nach etwas, das nicht jeder hat. In Wirklichkeit ist es jedoch ein uraltes Verkaufsprinzip – künstliche Verknappung als Begehrlichkeits-Booster. Denn wenn etwas nur kurz verfügbar ist, erscheint es uns relevanter. Es geht längst nicht mehr nur um das Produkt, sondern um das Erlebnis, das damit verbunden ist – um das Gefühl, Teil des Moments zu sein. Und wer dazugehören will, muss eben schnell sein – und darf weder Kosten noch Mühen scheuen. Übrigens ein Vorgang, der durch Social Media nicht nur verstärkt, sondern oft erst durch gezieltes Influencer-Marketing initiiert wird. Besonders gut funktioniert das im Luxussegment, denn hier hat Konsum wenig mit Bedarf, dafür viel mit Bedeutung und Status zu tun. Wir kaufen, um etwas zu fühlen – Zugehörigkeit, Identität oder möglicherweise einfach nur ein Stück zweckfreie Schönheit in einer unschönen Welt.


Für Hersteller und Marken wiederum erfüllen limitierte Auflagen gleich mehrere Zwecke. Zum einen erzeugen sie kurzfristig Aufmerksamkeit und lassen die Marke lebendig wirken. Außerdem dienen sie nicht selten als Testlauf für neue Produkte: Verkauft sich eine limitierte Edition außergewöhnlich gut, taucht sie später oft in der regulären Kollektion wieder auf. Umgekehrt verschwinden viele reguläre Produkte ebenso schnell, wie sie gekommen sind – nicht, weil sie „so exklusiv“ waren, sondern weil sie sich schlicht nicht besonders gut verkauft haben. Doch selbst das ist selten endgültig: Oft kehrt dasselbe Produkt als „Holiday Revival“ zurück – dann natürlich limitiert und mit neuem Etikett. Mit anderen Worten: Die meisten Limited Editions sind weder für die Ewigkeit gedacht noch wirklich einmalig. Sie sind die Prototypen des modernen Konsums – kurzlebig, verpackt in Design und edler Bedeutung, und immer bereit für einen Relaunch.


Kaum eine Marke spielt dieses Spiel eleganter als Diptyque. Jedes Jahr erscheint die Weihnachtskollektion in neuem Design: Mal blau schimmernd wie Sternenstaub, mal inspiriert von nordischen Wäldern oder in opulentem Gold mit den Farben der französischen Trikolore. Das Design ist immer anders. Die Farben sind immer neu. Die einzelnen Produkte variieren geringfügig. Nur die Kerze „Sapin“ ist immer dabei. Seit gefühlten Ewigkeiten duftet sie nach Tannennadeln, Harz und Märchenwald – und ist für mich das perfekte Vorweihnachtsritual im Kerzenglas. Sie darf nicht fehlen, aber sie ist weder selten noch neu. Sie ist nur schön. Trotzdem freue ich mich jedes Jahr aufs Neue, wenn es sie wieder gibt.


Wenn Sie mich fragen, ist das das eigentliche Meisterwerk: Diptyque verkauft uns mit „Sapin“ nicht jedes Mal eine neue Kerze, sondern eine Gefühlslage – indem sie dem alten Duft ein neues Kleid geben, verpackt in das Versprechen, dass Weihnachten in diesem Jahr ein bisschen goldener, exklusiver und unvergesslicher sein wird. Ein festliches Déjà-vu: Wir erkennen das Muster, fühlen uns heimisch und greifen trotzdem jedes Mal wieder zu. Zumindest geht es mir so. Und das ist auch gut so.


Lediglich eine Frage stellt sich mir jedes Jahr wieder: Wann ist der richtige Zeitpunkt, sie anzuzünden? Die Brenndauer beträgt rund 60 Stunden, und sie sollte jeweils 2–3 Stunden am Stück brennen. Zünde ich sie zu früh an, ist sie bis zu den Feiertagen fast runtergebrannt. Warte ich zu lange, bleibt sie zwar ewig schön – ist aber sinnlos. Der ideale Moment ist rein rechnerisch am ersten Advent. Dann darf sie etwa zweimal pro Woche für zwei bis drei Stunden leuchten, langsam ihren Tannenduft entfalten und den Dezember begleiten. So bleibt sie bis zu den Feiertagen ansehnlich, um am 24. Dezember ihren eigentlichen Auftritt zu haben. Wenn man übrigens nach dem Löschen den Deckel aufsetzt, den Docht regelmäßig kürzt und Zugluft vermeidet, wird das Vergnügen sogar ein wenig verlängert. Und das Schönste: So benutzt man sie wirklich – statt sie, wie es mir früher oft passiert ist, als unbenutztes Symbol der Weihnachtsvorfreude ins Regal zu stellen.


Vielleicht liegt der wahre Luxus ohnehin nicht im Besitzen, sondern im Benutzen. Denn der zeigt sich für mich jedes Jahr aufs Neue, wenn ich die Sapin das erste Mal entzünde. Sie mag am Heiligen Abend nicht mehr perfekt und makellos sein, aber sie lebt – und begleitet mich meist sogar bis über die Feiertage hinaus.

Christiane Behmann

Christiane Behmann


Christiane Behmann ist Diplom Sozialwissenschaftlerin und Texterin. Nachdem sie lange Jahre als Pressereferentin für verschiedene Unternehmen tätig war, wagte sie 2000 mit einer eigenen Werbeagentur den Schritt in die Selbständigkeit. 2007 gründete sie das „Archiv für Duft & feine Essenzen“ und war damals eine der ersten Bloggerinnen Deutschlands. Seit 2009 war sie außerdem Inhaberin vom Duftcontor in Oldenburg und arbeitet jetzt wieder in ihrem alten Beruf.