Selbstverständlich lass ich mich nicht verführen. Nicht mehr. Ich weiß einfach zu viel – über Konsummechanismen, Reiz-Reaktion-Schemata, Dopamin-Kicks und Adrenalinausstöße; über Manipulation und „Must-Haves“, die dann doch keine sind. Denn ich analysiere Werbung und erkenne einen Instagram-Filter ebenso wie Botox. Mit anderen Worten: Das Verführen überlass ich gerne anderen – und die Verführung sowieso. Doch dann habe ich einen Duft am Handgelenk, der meinem Selbstverständnis entsprechend weder erwachsen noch sophisticated riecht, sondern klebrig und süß nach Kirschen, Zuckerwatte, Sahne und Vanille duftet. Und ich denke: hmmm! und gleich danach: Bin ich nicht, aber will ich trotzdem. Trotz allem gesammelten Wissen: Verführung funktioniert. Bei mir. Bei uns allen. Viel zu leicht, manchmal.
Verführung ist ein Spiel mit Codes – mit Andeutungen, Erwartungen und der Kunst des richtigen Timings. Sie wird uns nicht in die Wiege gelegt, sondern kulturell geprägt, emotional gelenkt und psychologisch wohlkalkuliert eingesetzt. Und sie funktioniert besonders gut dort, wo man sie nicht erwartet – oder nicht ganz ernst nimmt. Süße Düfte – zuckrig, rosa, fruchtig und verspielt – verströmen genau jene Ambivalenz, die auch manchen Menschen anhaftet: niedlich, zauberhaft, leicht zu begeistern, aber mitunter ein wenig neben der Spur. Sie wirken harmlos, naiv, fröhlich – wie weichgezeichnet. Fast so, als könnten sie keine gezielten Absichten verfolgen. Und genau das ist ihre größte Stärke. Etwas, dass süß duftet oder niedlich aussieht, wird selten als kontrolliert oder berechnend wahrgenommen, sondern erzeugt eine stille Aura von Entwarnung und Ungefährlichkeit. Eine Wirkung, die Türen charmant öffnet, die sich womöglich bei zu viel selbstbewusster Präsenz verschließen würden. „Strategie Süß“ bedient sich eines kulturell tief verankerten Vorteils: Weichheit entwaffnet. Und wer unterschätzt wird, gewinnt Handlungsspielraum.
Psychologen interpretieren „süß“ als eine Form der Tarnung: Nähe wird hergestellt, ohne Bedrohung zu erzeugen. Es ist ein Spiel mit Macht und Entmachtung, ob bewusst oder unbewusst. Wer süß ist, darf provozieren, ohne bestraft zu werden. Man darf flirten, ohne zu dominieren. Man darf verführen, ohne es zuzugeben. Leider hat Verspieltheit in unserer Kultur keinen hohen Status. Sie wird schnell mit Oberflächlichkeit, Naivität oder Infantilität gleichgesetzt – insbesondere dann, wenn sie mit Weiblichkeit verbunden ist. Ernsthaftigkeit gilt als reif, Tiefe als überlegen, Zurückhaltung als stilvoll. Spieler:innen hingegen gelten als zutiefst unseriös, und Fröhlichkeit gehört zum Karneval oder in den Kindergarten.
Dabei ist Spiel die erste Form von Freiheit – und „süß“ längst eine ästhetische Gegenstrategie. In Mode, Design, Duft und Popkultur wird girliehafte Süße gezielt inszeniert – und zugleich ironisch gebrochen. Pink ist kein Ausdruck von Naivität, sondern ein Spiel mit Klischees und ein bewusster Bruch mit klassischen Verführungscodes. Nicht mehr die verrucht übernächtigte Stimme, roter Samt und schwarzes Leder gelten als Inbegriff der Verführung – sondern Rosa, Pink und Pastell. Barbie, Glow und Weichzeichner stehen nicht für Trivialität, sondern für kalkulierte Inszenierung: Sie fungieren als rhetorische Stilmittel – süß, aber nicht naiv. Das zeigt sich auch in der Konzeption aktueller Parfums: Es ist nicht der dunkle Chypre, der animalische Amber oder der patchoulilastige Orientale, der als perfekter Date-Night-Duft gewählt wird. Auf der olfaktorischen Menükarte stehen stattdessen Brausepulver, Gummibärchen, Kaugummi, süße Kirsche, Pistazieneis und Zuckerwatte. Düfte, die bewusst nicht ernst wirken wollen – und genau deshalb unwiderstehlich sind.
Doch am Ende stellt sich die Frage: Mögen wir, was wir sind? Oder sind wir, was wir mögen? Vermutlich beides. Vielleicht beginnt es mit einer Vorliebe für Vanille, Pastell und für Dinge, die in einer schlecht gelaunten Welt einfach gute Laune machen. Und irgendwann wird daraus eine Haltung. Weil das Leben mit Leichtigkeit und Spiel schlicht mehr Freude bringt. Und genau deshalb ist „süß“ vielleicht die souveränste Form der Verführung. Denn verführerisch ist nicht, was wir sagen – sondern was wir auslösen: oft unbeabsichtigt, manchmal gezielt und nie ganz kontrollierbar.
Wer spielt, gibt nichts preis, was er nicht preisgeben möchte. Und wer dabei lächelt, hat vielleicht längst gewonnen.