Es gibt Tage, da freue ich mich auf den Winter. Nicht, weil ich den Sommer nicht mag, sondern weil im Winter endlich wieder Ruhe einkehrt. Seit Monaten wird unsere Stadt quasi auf links gedreht: Mit endlosem Bau- und Sanierungslärm werden Einfamilienhäuser abgerissen und durch dreistöckige Neubauten ersetzt, begleitet von einem Heimwerker-Crescendo aus Rasenmähern, Motorsägen, Laubbläsern und Bohrmaschinen. Den Soundtrack zu diesem Lärmorchester liefern im Hintergrund mobile Diskos mit der Bassbox auf Anschlag, Hundebesitzer, die meinen, Erziehung funktioniere nur brüllend, und Kinder, die nebenan stundenlang auf einer Hüpfburg zählen üben – und leider bei Drei wieder von vorn anfangen. Und sollte man tatsächlich einmal zwei Minuten lang Vögel statt Flex hören, kommt garantiert jemand auf die Idee, dass der Rasen dringend gemäht werden muss.
Manchmal habe ich den Eindruck, Deutschland sei nur noch eine Generalprobe für eine Endzeitoper. Es ist die Kakophonie der Gegenwart - jeder für sich ein Instrument, zusammen ein Orchester des Unerträglichen. Und als Zugabe: Jene Zeitgenossen, die ihr Auto im Leerlauf röhren lassen, während sie warten, die sich im Supermarkt über drei Kühltruhen hinweg brüllend fragen, ob zu Hause noch Butter ist, oder die mit einer einzigen Parfumwolke gleich einen halben Landstrich olfaktorisch verwüsten. Man möchte ihnen zurufen: „Ihr habt es geschafft, ihr habt unsere ungeteilte Aufmerksamkeit!“ - für exakt zwei Sekunden, bis die nächste Nervensäge ihr Instrument stimmt.
Warum tun wir uns das an - und vor allem: Warum machen wir mit, ohne unseren eigenen Anteil wahrzunehmen? Psychologisch betrachtet, ist Lärm ein Ur-Signal: „Achtung! Ich bin hier.“ Schon kleine Kinder lernen, dass Schreien unmittelbare Wirkung hat - es macht sie unüberhörbar und damit auch sichtbar. Als Erwachsene variieren wir lediglich die Mittel: Rasenmäher statt Kreischen, Flex statt Trommel. In der Sozialpsychologie spricht man vom Kampf um knappe Aufmerksamkeit: Wer wahrgenommen werden will, greift zur Übertreibung. Der eine übertönt, der andere überstrahlt, der dritte überduftet. Lärm ist dabei nicht nur akustisch zu verstehen - auch grelle Kleidung, aggressiv wirkende Autos oder eben die berüchtigte Parfumwolke gehören dazu. Verstärkt wird dieses Verhalten durch die Logik der sozialen Dichte: Je enger wir zusammenleben, desto größer das Bedürfnis, sich abzugrenzen. Stille funktioniert dort kaum, weil sie im Grundrauschen untergeht. Also wird das Signal verstärkt - um jeden Preis. Das Ergebnis ist eine Art „akustischer Kapitalismus“: Wer am lautesten lärmt, gewinnt.
Soziologisch betrachtet, steckt dahinter die Überforderung mit der Moderne. Wir leben in einer Gesellschaft, in der alles gleichzeitig stattfindet: Arbeit, Freizeit, Konsum, Erziehung. Jede:r beansprucht Raum, jede:r will sichtbar, hörbar, fühlbar sein. Die stille Selbstverständlichkeit des Privaten ist längst verloren. Stattdessen herrscht Dauer-Selbstinszenierung - sei es auf Social Media, auf der Straße oder im Supermarkt. Lärm wird dabei zum Performance-Instrument: Der Laubbläser signalisiert, dass hier jemand arbeitet. Die Boombox auf der Liegewiese, dass hier jemand feiert (sich selbst). Das grelle Outfit: Hier will jemand gesehen werden. Die Parfumwolke: Hier war jemand. Sozialer Lärm wird zum Statusmarker, zur Eintrittskarte in die Wahrnehmung der anderen.
Descartes’ berühmtes „Cogito, ergo sum“ - Ich denke, also bin ich - ist längst aus der Mode gekommen. Heute gilt die Devise: „Ich lärme, also bin ich.“ Denn wer keinen Lärm macht, wird nicht bemerkt. Und wer nicht bemerkt wird, existiert nicht. So wird jede Stille verdächtig: Ist da jemand krank, schwach oder - noch schlimmer - etwa langweilig?
Doch genau darin liegt das Paradox: In einer Welt, die permanent lärmt, ist die wahre Provokation die Stille. Nicht der schrille Auftritt, nicht die alles überdeckende Parfumwolke, sondern die leise Präsenz. Übertragen auf die Wahl des Parfums bedeutet das keineswegs Unauffälligkeit oder gar Belanglosigkeit, sondern Zurücknahme: Klar, nicht überladen und doch mit einer Ausstrahlung, die wie ein Statement wirkt. Eine innere Strahlkraft, eine flüsternde Autorität, die keinen Lärm benötigt. Genau diese Parfums sind es, die inmitten des Getöses wie ein Gegenentwurf erscheinen: Sie flüstern - und doch hört man ihnen zu.
Vielleicht liegt darin die eigentliche Kunst der Gegenwart: Nicht am lautesten zu sein, sondern mit dem Mut zur Lücke die eigene stille Präsenz so einzusetzen, dass man unverwechselbar bleibt. So wie die Parfums in unserer Auswahl – allesamt mit einer in sich ruhenden, stillen Präsenz, die dennoch auffällt.